Ein Vereinsheim, eine Pizzeria, daneben eine leere Wiese. So sieht der Grenzübergang bei Wegscheid heute aus. Vor fünf Jahren sind auf dieser Wiese hunderte Frauen, Männer und Kinder gesessen. Sie verbrannten alles, was sie finden konnten, um sich am Feuer aufzuwärmen. Und sie warteten darauf, von Bundespolizisten über die kleine Brücke geführt zu werden, unter der der Osterbach hindurchfließt. Über die Brücke zu gehen, bedeutete: In Deutschland anzukommen.
Tausende Flüchtlinge im 5.000-Seelen-Dorf
62.000 Menschen, die meisten von ihnen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran, gingen im Herbst 2015 über diese Brücke und passierten Wegscheid, einen Ort, der selbst nur rund 5.000 Einwohner hat. Von hier wurden die Flüchtlinge in Bussen auf ganz Deutschland verteilt. Wegscheid war ein Nadelöhr in der sogenannten Flüchtlingskrise.
"Ohne Ehrenamtliche nicht zu schultern gewesen"
Lothar Venus war damals als Kreisbrandmeister im Einsatz. Mit seinen Kameraden half er mit, die Flüchtlinge zu versorgen. "An einem Abend kamen sogar 2.500", erinnert sich Venus. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Infrastruktur. Die Nächte wurden immer kälter. Man habe sich damals schon gefragt, wann das erste Kind in Wegscheid erfrieren würde, sagt er. Immerhin sei zusätzlich das Bayerische Rote Kreuz dabei gewesen, das die Versorgung übernommen hat. Binnen kürzester Zeit stand ein beheiztes Zelt, es gab Essen, Trinken, Decken, Kleiderspenden und Spielsachen für die Kinder. Ohne die ehrenamtlichen Helfer wäre die Situation nie zu schultern gewesen, so das Fazit von Venus fünf Jahre danach.
Vom Koordinator zum Bürgermeister
In Wegscheid selbst erinnert heute nichts mehr an die Geschehnisse von 2015. In einer Unterkunft am Marktplatz wohnten zeitweise bis zu 150 Flüchtlinge. Doch bis Ende 2016 waren alle ausgezogen. "Den meisten ist ein Ort wie Wegscheid zu ländlich. Es sind alle weitergezogen – nach Passau oder in noch größere Städte", erzählt Lothar Venus. Er ist heute Bürgermeister. "Ich habe viel aus dieser Zeit gelernt und Erfahrungen gesammelt, von denen ich nicht nur fürs Bürgermeisteramt, sondern auch fürs Leben profitiere", erzählt er.
Ähnliche Krise wäre auch heute zu meistern
Der Passauer Rechtsanwalt Christan Reidl war Kopf der Helferinitiative "Passau verbindet", hat das ehrenamtliche Engagement koordiniert, war Schnittstelle zur Bundespolizei. Auch er erinnert sich gut an 2015, als die meisten Flüchtlinge in Passau ankamen. Auch heute wäre eine solche Krise zu meistern, davon ist Reidl überzeugt. "Würden wir jetzt eine Zahl von täglich 500 Flüchtlingen bekommen, bin ich mir ziemlich sicher, würde das die Bundespolizei ohne zivile Helfer hinbekommen."
Erfahrungen waren hilfreich
Die Erfahrungen, die Ehrenamtliche damals gemacht haben, wären heute noch hilfreich. Wir würden es wieder schaffen, glaubt Wegscheids Bürgermeister Venus. Gleichzeitig ärgert er sich, dass es in der EU bis heute keine Einigung in der Asylpolitik gibt. "Bayern hat für halb Europa die Kohlen aus dem Feuer geholt. Und die Situation ist nie gelöst worden. Es wird auf Risiko gespielt. Die Situation kann sich wiederholen, wir hoffen natürlich, dass es nicht so kommt. Aber diesen Risiko-Flug sehen wir in der Region mit gemischten Gefühlen."
August 31, 2020 at 03:38PM
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"Wir schaffen das": Ein Dorf als Schauplatz der Flüchtlingskrise - BR24
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